Usem Läbä

Analog zum Kursmagazin lesen Sie hier die Geschichten aus dem Leben von unterschiedlichsten Menschen.

Back to the roots (zurück zu den Wurzeln).

Anna Lawrence-Fenk in blauer Baseball-Jacke

«Mit den Jugendjahren wurde mir das Melchtal bald zu eng und meine Heimat zunehmend fremd.»

Als wir an der Wohnungstür im «Huwel» klingeln, meint eine Mitbewohnerin im Vorbeigehen, dass Anna bei diesem «Hudelwetter» bestimmt auf dem gedeckten Vorplatz zu finden sei. Doch einen Augenblick später öffnet sich die Tür und Anna Lawrence-Fenk begrüsst uns freudestrahlend. Auf der Rückseite der Tür fällt ein Schild ins Auge:

«Back to the roots (zurück zu den Wurzeln). Welcome by iis in Obwalden.»

Hier im «Huwel» wohnt Anna Lawrence-Fenk seit gut einem Jahr in einer Alterswohnung. 54 Jahre verbrachte die gebürtige Melchtalerin in Amerika. Nun ist sie zurück in der alten Heimat. Rund 9'000 Kilometer Luftlinie liegen zwischen ihren beiden Lebenswelten.

Eigentlich hatte ich nicht im Sinn zurückzukehren. Doch bei einem Waldbrand musste ich das Haus evakuieren und wusste nicht, ob es nach der Katastrophe noch stehen würde. Diese Gefahr und das Glück, dass ich in der Schweiz Verwandtschaft habe, führten schliesslich dazu, dass ich im letzten Jahr in die Schweiz zurückgekommen bin. ‹Im Obwaldnerländli müäss ich kei Angscht ha vor Waldbränd.›

Aufgewachsen bin ich im Melchtal. Neben dem Restaurant Nünalphorn und der Bäckerei Huwyler, wo es ab und zu den Anschnitt einer Cremeschnitte ‹z schnaisä gäh hed›. Später baute und betrieb meine Familie die Bahn auf die Rütialp.

Ich war eines von sieben Kindern – das jüngste und das schlimmste. Mit den Jugendjahren wurde mir das Melchtal bald zu eng und meine Heimat zunehmend fremd.

«Das bäuerlich geprägte Leben war nichts für mich.»

Ich wollte unbedingt einen Beruf erlernen. Und so ging ich für einen Sprachaufenthalt ins Welschland. Zuerst nach Freiburg, später nach Neuenburg. Mit 16 machte ich ein Haushaltslehrjahr bei der Familie Wirz im roten Haus in Sarnen. Über Telefonkurse bildete ich mich kaufmännisch weiter. Nach Zwischenstationen in Gersau und Zürich verbrachte ich mit 20 eineinhalb Jahre in London. Dort besuchte ich Sprachkurse und arbeitete bei wohlhabenderen Familien im Haushalt. Als ich nach England kam, konnte ich auf englisch gerade mal auf fünf zählen. Sonst hatte ich keine Ahnung. Doch zurück in der Schweiz erleichterten mir die Sprachkenntnisse den Einstieg in die Berufswelt. Bei der Radio Schweiz AG fand ich eine Anstellung am Flughafen in Zürich. Das Unternehmen war für die Flugsicherung zuständig, sammelte weltweit Wetterdaten und verschickte die Flugpläne der Piloten in alle Himmelsrichtungen. So sehr mir das Grossstadtleben gefiel, so zunehmend grösser wurde die Enttäuschung, dass ich als Frau im Unternehmen nicht gefördert wurde. Auch nach sechs Jahren war ich immer noch für die Betreuung der jüngeren Mitarbeiter zuständig, währenddessen meine männlichen Kollegen die Karriereleiter hochstiegen. Bis eines Tages Sepp Huwyler, mein ehemaliger Nachbar aus dem Melchtal, auftauchte, und meinte: «Komm für drei Jahre nach Amerika. Dann kannst du dich weiterbilden und zurück in der Schweiz für eine höhere Anstellung empfehlen.» Sepp Huwyler war Zahnarzt und arbeitete an den Winterwochenenden in Lake Tahoe als Skilehrer. «Gut ein Jahr später kam ich mit meinem Koffer, einem Paar Ski und 300 Dollar in der Tasche in Amerika an.»

Bei der Familie eines Bekannten von Sepp Huwyler fand ich vorübergehend Anstellung und in San Francisco eine neue Heimat. Später arbeitete ich unter anderem für den Vertrieb der bekannten Christian Brothers Winery aus dem Napa Valley und für American Express. In einem Computerkurs lernte ich gut ein halbes Jahr nach dem Start des Amerika-Abenteuers meinen späteren Mann Gary kennen. Er war mein Lehrer – und es hat sofort gefunkt. Gemeinsam gingen wir fortan durchs Leben, heirateten 1972 und zogen bald nach Alameda auf der anderen Seite der San Francisco Bay. Auch wenn die Ehe kinderlos blieb, so vermisste ich nichts. Die gemeinsamen Interessen und insbesondere die ausgiebigen gemeinsamen Spaziergänge und Wanderungen, das Entdecken von neuen Gegenden schweisste uns als Paar zusammen. Nach der Pensionierung im Jahr 2000 zogen wir aufs Land. Nach Lake Wilwood Penn Valley in Kalifornien. In der Schweiz würde man sagen: In die Voralpen.

«Trotz meiner Anpassung an das Leben in Amerika und der beruflichen Erfolge habe ich nie meine Wurzeln verloren.»

Die Erinnerungen an mein Zuhause im Melchtal und die Verbindung zu meiner Heimat blieben immer präsent. Die Telefonate in die Schweiz waren insbesondere in den ersten Jahren ein teurer Spass: Umgerechnet 18 Franken für drei Minuten Gesprächszeit. Aber wenn es etwas Wichtiges zu sagen gab, habe ich immer gerne mit daheim telefoniert. Mit meiner 90jährigen Schwester Agnes, die in Kriens wohnt, hat sich der Kontakt nach meiner Rückkehr in die Schweiz wieder intensiviert. Wir telefonieren alle zwei bis drei Tage. Vor zehn Jahren habe ich meinen Mann Gary verloren. Ein schwerer Schicksalsschlag. So habe ich angefangen, jeden Tag zu laufen. Das hat mir geholfen, mich abzulenken. Das Laufen habe ich bis heute beibehalten. Jeden Tag, ohne Ausnahme.

«Täglich komme ich auf rund 14'000 Schritte.»

Wenn das Wetter gut ist, spaziere ich draussen, ansonsten gehe ich hier im unteren Stockwerk durch drei Gebäude und bewege mich unter dem gedeckten Vorplatz. Dort mache ich vier Runden. So bin ich nicht vom Wetter abhängig. Es tut gut, mich zu bewegen. Das brauche ich für mein körperliches und geistiges Gleichgewicht. Im und um den ‹Huwel› bin ich bereits bekannt für meine tägliche Routine. Ab und zu kommt auch jemand mit.

Eine Mitbewohnerin bezeichnet mich als ‹Sonnenschein›, weil ich auf die Leute zugehe und zu allen freundlich bin. Das ist ein schönes Kompliment. Aber es ist hier schon nicht ganz einfach, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Die Schweizer sind recht zurückhaltend. Es hat etwas gedauert, bis ich gemerkt habe, dass sie ansprechbar sind. Jetzt habe ich gute Kontakte und fühle mich integriert. Zweimal pro Woche jasse ich mit einer kleinen Gruppe.

Und immer wieder kommt es nach einem halben Jahrhundert Abwesenheit zu überraschenden Begegnungen und Wiedersehen im Dorf und in der Altersresidenz: ‹Ah, das isch ja s Fänkä Anni›, heisst es dann.

«Auch wenn die Schweiz meine Heimat ist, so habe ich einen Sehnsuchtsort fast auf der anderen Seite der Erdkugel: Hawaii.»

Das Meer dort hatte ich unglaublich gerne. Eine einzigartige Landschaft, wo ich auch die Hochzeitsreise und immer wieder Ferien mit meinem Mann Gary verbracht habe. Ja, Hawaii vermisse ich. Besonders auch hier in Obwalden. Aber dafür habe ich jetzt die Melchtaler Berge wieder. Zu meinem grossen Bedauern kann ich sie hier vom ‹Huwel› aus aber nicht direkt sehen. Ob ich in all' den Jahrzehnten in den USA Heimweh nach Obwalden hatte? Nein, ich lebe mich schnell und gut an einem neuen Ort ein. Aber zurück in Kerns kann ich sagen: ‹Hiä bini drhäimä acho.› Was ich neben Hawaii und der fehlenden Sicht auf die Melchtaler Berge sonst noch vermisse? Natürlich viele Freunde und Bekannte in den USA – und Bowling! Gemeinsam mit meinem Mann als Chauffeur und meinem grössten Fan bin ich zu vielen Trainings und Turnieren kreuz und quer durch Kalifornien gefahren. 2015 wurden wir mit unserem Team ‹Grass Valley Golden Nuggets› Champion im Team und im Doppel. Die blaue Team-Jacke habe ich immer noch. Die 84jährige Heimkehrerin schiebt die Vorhänge zur Seite und schaut kurz nach draussen. Es regnet immer noch in Strömen.

«Am Morgen habe ich bereits 5'000 Schritte gemacht. Ich werde gleich noch ein paar Runden drehen.»

Anna Lawrence-Fenk zieht die Vorhänge zu und lächelt zufrieden. «Der American Dream ist für mich Realität geworden. Ich hatte ein schönes Leben und würde alles wieder so machen. Ich habe nichts bereut. Das ist ja die Hauptsache, oder?»

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